Sie sollten die Ausnahme bleiben
Man sieht sie immer öfter: abstrakte Baumkunst, Kleiderständer, Baumverstümmelung … Gekappte Bäume gehören zu den Dingen, mit denen sich Baumpflegebetriebe fast täglich auseinandersetzen müssen - vom Wiederaufbau der Kronen bis hin zur Entnahme des Baumes. Doch kann durch Kappungen am Ende auch Lebensraum für Tiere entstehen. Eric Rouven Seiler erklärt, warum.
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Insbesondere werden, zumindest in der Rhein-Main-Neckar Region, Juglans regia oft zu stark geschnitten oder gar gekappt. Subjektiv wahrgenommen lässt sich mittlerweile eine Liste eher über nicht gekappte als über gekappte Walnüsse führen. In der ZTV Baumpflege von 2017 werden Kappungen als ein „umfangreiches, baumzerstörendes Absetzen der Krone ohne Schneiden auf Zugast und ohne Rücksicht auf Habitus und physiologische Erfordernisse“ definiert. Oft genug werden Kappungen damit begründet, dass der Baum ja wieder austreibt. Grundlegend ist dies zunächst richtig. Der Baum grünt wieder nach, jedoch indem er mit Stresssymptomen in Form von Reïteraten (gesprochen Re-Iterate) reagiert und versucht, sich mit diesen seine Krone wieder zu holen (lat. reïterare = wiederholen).
Der Baum unterscheidet nicht zwischen einem durch den Menschen abgeschnittenen und einen durch Wind abgerissenen Ast. Auch wenn die Astwunde durch ein Windbruch zunächst größer aussieht, stellt sie für den Baum ein geringeres Problem dar als ein quer durch die Holzzellen durchgeführter Schnitt, da der Ast bei einem Windbruch entlang der Holzzellwände abreißt. Lediglich die initiale Bruchstelle geht einmal quer durch die Zellwände.
Die massive Ausbildung von Reïteraten passiert nicht nur nach Kappungen, sondern generell nach zu stark ausgefallenen Schnittmaßnahmen, auch wenn hierbei auf Ableitungen geachtet worden ist. Durch die massiven Austriebe entsteht eine größere Anzahl an Blättern. Je mehr Blätter der Baum hat, umso mehr Photosynthese kann er betreiben. Je mehr Photosynthese der Baum betreibt, umso mehr Nährstoffe und Wehrstoffe kann er produzieren, die er auch zwangsweise benötigt, um sich gegen eindringende, holzzerstörende Pathogene zu wehren.
Abschottungsverhalten und Schnittverträglichkeit
Es wird oftmals zwischen gut und schlecht abschottenden Baumarten unterschieden. Grundlegend reicht dies erstmal aus. Wenn es aber darum geht, Bäume fachgerecht zu schneiden, kommen neben diesen beiden Merkmalen einige weitere hinzu. Bleiben wir zunächst bei baumbiologischen Eigenheiten. Hier wird vor allem neben dem Abschottungsverhalten oftmals die Schnittverträglichkeit behandelt. Beide Aspekte hängen unweigerlich miteinander zusammen. So kann man meinen, je besser das Abschottungsverhalten eines Baumes ist, umso stärker könnte man ihn auch schneiden.
Betrachtet man die Baumart Fagus, ist man hier schon weit gefehlt. Zwar mag die Baumart, singulär betrachtet, einen stärkeren Schnitt durchaus vertragen, treten jedoch bei zu starker Schnittmenge andere größere Probleme, wie Sonnennekrosen, auf. Gleichzeitig bedingt das Abschottungs- auch das Austriebsverhalten. Je schlechter das Abschottungsverhalten ist, umso stärker ist das Austriebsverhalten, damit der Baum seine Notwendigkeit an Nähr- und Wehrstoffen produzieren kann. Neben diesen baumbiologischen Eigenschaften spielen Standortbedingungen, Bodenverdichtungen und/oder -versiegelungen eine signifikante Rolle, wenn es darum geht, Nährstoffe aus dem Boden aufzunehmen oder abzugeben.
Baumarbeiten und Artenschutz
Ein weiteres Konfliktfeld existiert zwischen der Welt der Baumarbeiten und des Artenschutzes. Ein Konflikt, der mit dem nötigen Sachverstand durchaus reduzierbar, wenn nicht gar vermeidbar wäre. Baumpflegearbeiten an gekappten Bäumen verdienen dahingehend eine besondere Beachtung. Durch den unsachgemäßen Schnitt und die Nicht-Beachtung von baumphysiologischen Eigenschaften können holzzerstörende Pathogene an den deutlich zu großen Schnittflächen eindringen und ihren Zersetzungsprozess beginnen. Durch die weitere Holzzersetzung entstehen zunächst an den Kappstellen Rückzugsorte für Lebewesen, die auf diese angewiesen sind. Die Faulstellen breiten sich im Laufe der Zeit axial der Stammachse immer weiter aus, bilden Halbhöhlungen und Höhlungen und stellen dadurch weitere Lebensräume für weitere Tiere dar.
Reïterationen und ihr Nutzen für die Photosynthese fungieren nur noch als Schadensbegrenzung. Die wenigstens Bäume sind dazu in der Lage, die Kappstellen dauerhaft soweit zu überwallen und abzuschotten, dass aus den Trieben wieder stabile Kronen aufgebaut werden können. Verschärft wird das Problem durch die Verkehrssicherungspflicht der Grundstückseigentümer, aufgrund derer oft nicht fachgerecht oder zu stark geschnitten wird.
So paradox es klingen mag, so zerstören Kappungen und helfen zugleich der Artenvielfalt. Durch Kappungen wird der Baum derart in seiner Physiologie gestört, dass eine Holzzersetzung unausweichlich ist und auf lange Sicht der Baum sich nicht gegen eindringende holzzersetzende Pilze schützen kann. Kappungen zerstören in ihrer weitreichenden Konsequenz über einen jahrelangen Zeitraum Bäume vollständig, bilden jedoch, aufgrund der Fäulnisprozesse, Lebensräume für hochspezialisierte Tierarten, die ausschließlich in diesen Habitaten ihre Lebens-, Burt- und Fortpflanzungsstätten finden (siehe Artikel Habitatbäume in diesem Expertenbrief, Anm. d. Red.).
Dies soll aber keineswegs als Aufruf verstanden werden! Viel wichtiger ist es, sich vor Pflegearbeiten mit baumphysiologischen Eigenschaften auseinanderzusetzen, sich selbst im Vorfeld Gedanken über die zu erwartende Verkehrssicherheit zu machen und Zeit in die Kundenberatung zu stecken. Die Beratung von Fachbetrieben für Baumpflege sollte neben einem wirtschaftlichen Interesse vor allem im Interesse des Baumes erfolgen.
Zu den Bildern (unten):
Bilder 1 bis 3: Diese Platane steht auf dem Außengelände einer Kindertagesstätte. Der Baum wurde als zu groß und zu gefährlich eingestuft und deshalb durch nicht Fachkundige eingekürzt. Typisch für Bäume hat die Platane mit der Ausbildung etlicher Reïterate reagiert. Aussagen, dass Platane solche kräftigen Rückschnitte durchaus vertragen können, können anhand dieser Bilder widerlegt werden. Die Restwandstärken betragen gerade einmal wenige Zentimeter. Durch die massive Reïteration wiederum wird Vogelarten ein perfekter Nistplatz geboten. Die Nester sind rundherum geschützt und können nicht herausfallen. Zugleich sind sie, durch die massive Blattmasse, nach oben gegenüber Fressfeinden geschützt. Die Höhlungen bieten wiederum Käferarten durch den Mulm entsprechende Lebensräume.
Bild 4: korrekter Schnitt Kastanie: Dieses Bild zeigt einen vermeintlich fachlich korrekt durchgeführten Schnitt, obwohl hier sehr eng am Astring geschnitten wurde. Allerdings spielt hier die Baumphysiologie eine entscheidende Rolle. Die Kastanie ist, nahezu wie Pappeln und Weiden auch, eine sehr schlecht abschottende Baumart. Rückschnitte von mehr als 5 cm Durchmesser sind hier schon als grenzwertig anzusehen. Zwar verschließt die Kastanie mit ihrer nach außen gerichteten Abschottungswand Schnittstellen sehr schnell, jedoch gilt dies nicht für die axiale, radiale und tangentiale Wand. So entsteht ein wertvoller Lebensraum, wie in diesem Fall mit einem Höhlungsdurchmesser von etwa 30 cm.
Bild 5 bis 7: Diese Platane bestockt mit neun weiteren ihrer Art ein Bahnhofsgelände und stockt unmittelbar zwischen der Zufahrtsstraße und Privatgärten. Hier wurde versucht, Kopfplatanen anzulegen, allerdings deutlich zu spät. Die Köpfe weisen ausgeprägte Höhlungen auf, die teilweise, wie im dritten Bild, gar die gesamte Stammachse betreffen. Da die Bäume hier bis zu 8 m hoch sind, wird an den städtischen Eigentümer ein hoher Anspruch an die Verkehrssicherheit der Bäume gestellt. Zugleich bilden sie aber wertvolle Rückzugsräume für viele Tierarten.
Bild 8 bis 10: Diese Walnuss steht in einem Privatgarten. Die Kappstellen befinden sich etwa in einer Höhe von 10 m. Zum Zeitpunkt des Pflegeschnitts standen auf diesen Kappstellen etwa gleich hohe Reïterate. Die Restwandstärke beträgt wenige Zentimeter und die Höhlungen über 30 cm. Der Baum hat entsprechend mit Reïterationen über die gesamte Stammhöhe reagiert.
Fazit: Kappungen zerstören Bäume, schaffen zugleich aber Lebensraum für hochspezialisierte, teilweise bedrohte Tierarten. Durch Kappungen greift der Mensch dem natürlichen Verlauf bei Bäumen vor. Sofern die Verkehrssicherheit es zulässt, ist eine Durchführung von Kappungen und zur Etablierung von natürlichen Habitatstrukturen eine Maßnahme, die durchaus in Betracht gezogen werden kann, aber ausschließlich eine Ausnahme bleiben darf.
Der Autor Eric Rouven Seiler, geboren 1987, wohnt mitten in Rheinhessen. Er ist in der Baumpflege selbstständig tätig seit 2016, Inhaber der Firma Baumpflege-Rheinhessen GbR und des Baumsachverständigenbüro Rheinhessen. Er hat verschiedene Weiterbildungen bis zum European Tree Technician, Akkreditierten SKT A und B Ausbilder, Sachverständigen für Baum-Habitatstrukturen, zur Umwelt- und baumfachlichen Baubegleitung sowie Wurzelraumsanierung erfolgreich abgeschlossen. Neben seiner selbstständigen Tätigkeit ist er als Ausbilder in der Baumpflege tätig.
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