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Unsere Verantwortung

Was machen wir hier eigentlich? Ein polemischer Aufruf

Tobias Zielisch aus Postdam, Diplom-Biologe, Baumpfleger und Gutachter für naturschutzfachliche Praxisfälle (zielisch@baumdienst-potsdam.de), hat in unserem Expertenbrief bisher das Spannungsfeld zwischen Baumpflege und Naturschutz beleuchtet. Dieses Mal hat er sich über die Welt, die Natur und die Rolle des Menschen Gedanken gemacht. Was zunächst wie ein Untergangsszenario scheint, mündet in einen mutmachenden Aufruf an uns alle.

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Neubauviertel in Potsdam nahezu ohne Grünfläche
Neubauviertel in Potsdam nahezu ohne GrünflächeTobias Zielisch
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Einst zogen riesige Säugetiere in großen Herden über die Steppen der Erde. Mastodonten, Wollhaarmamut, Nashörner, Steppenbison und viele mehr. In den Wäldern, die fast den gesamten Rest der Landfläche bedeckten, lebten Riesenfaultiere, Waldelefanten, Höhlenbären, Riesenhirsche und andere große Säugetiere. Millionen Meeressäuger wie Blauwal, Norkapper, Finnwal bevölkerten die Meere. In Nordamerika lebten Wandertauben, 16 Milliarden Individuen, die in endlosen Schwärmen durch den Kontinent zogen. Als die ersten europäischen Siedler ankamen, war 80 % der Landfläche mit Wäldern bedeckt. 4.000 Jahre alte Mammutbäume im Westen, Platanen mit 6 m Stammdurchmesser, die bis an den Strand der Atlantikküste wuchsen im Osten. Die Flüsse voller Lachse, Störe und Welse. Und das war sogar nur der Rest einer viel reicheren Natur, die vor Ankunft der Ureinwohner noch üppiger war. Australien war vor Ankunft der Menschen voller riesiger unglaublicher Lebewesen. Laufvögel doppelt so groß wie Menschen, Riesenkänguru, Wombats mit über 1 t Körpergewicht, Beutellöwen, riesige Warane, die durch den damals noch feuchten Kontinent wanderten.

All das ist verschwunden oder nur noch in Resten vorhanden. Von den Urwäldern Nordamerikas sind noch 2 % übrig. Die Megafauna weltweit fast komplett ausgerottet. Von den Walen weniger als 5 % übrig. Die Liste der Verluste ließe sich endlos weiter führen. Immer, wo Menschen auftauchen, schrumpfen die Wälder, sterben die großen Tiere und mittlerweile auch die kleineren. Die Populationen weltweit auch von häufigen Lebewesen schrumpfen, brechen zusammen oder verschwinden gänzlich. Die Menge der Biomasse insgesamt sinkt dramatisch, Ein Drittel aller Säugetierarten vom Aussterben bedroht, bei Reptilien und Amphibien sogar noch mehr. Zahllose Arten bereits verschwunden oder verschollen. Das größte Artensterben seit 65 Mio. Jahren. Wir leben in einer Welt, die immer noch wunderschön ist, aber eigentlich nur ein lauwarmer Aufguss einstiger Fülle und Vielfalt darstellt.

Menschen waren noch nie nachhaltig, und es ist fraglich, ob wir es je sein werden. Der Mythos des naturverbundenen Urmenschen oder des edlen Wilden ist widerlegt. Und jetzt, da wir das wissen, fehlt uns eine ethische Richtschnur für das umweltverträgliche Handeln. „CO2-neutral, natürlich, umweltfreundlich“ sind einige Krücken, Begriffe, die uns helfen sollen, unser Verhalten in Bahnen zu lenken. Bahnen, von denen wir meist nicht sicher wissen, ob sie überhaupt einen Effekt haben. Der Begriff der Nachhaltigkeit ausgelutscht, vermarktet und überdehnt bis zur Bedeutungslosigkeit.

In der sozialen Blase, in der wir Grünpfleger uns hier bewegen, gibt es ein größeres Verständnis der globalen Umweltkrise als im Durchschnitt der Bevölkerung, und viele von uns versuchen, gegen den Untergang zu arbeiten. Wir versuchen es zum Beispiel, indem wir Naturschutzgebiete betreuen, in der Baumpflege Artenschutz etablieren oder im Bereich Städteplanung mehr Grünfläche implementieren. Wir managen die Fläche. In unserer Branche überwiegen die landwirtschaftliche Fläche und urbane Räume, höchst künstlich mit nur wenigen natürlichen Elementen. Mit Strukturen aus Stoffen, die in der Natur nicht vorkommen. Edelstahl, Beton, Kunststoff. Mit Bäumen, die ihr Leben lang getrimmt, geschnitten, gebunden und gestutzt werden, mit Tieren, die nur geduldet werden, wenn sie keine Krankheiten übertragen, leise sind und nicht beißen oder stechen. Aber wir versuchen unser Bestes, unsere technisierte Welt mit der Natur zu versöhnen.

Aber immer mehr Studien zeigen: Als Menschheit können wir mit solchen künstlichen verarmten Ökosystemen allein nicht überleben. Nicht, wenn nicht ausreichend Raum ist für Wildnis, die sich selbst überlassen bleibt. Schutzgebiete an Land und im Meer, die mindestens 30 % der Landflächen und 30 % der Wasserflächen beinhalten. Schutzgebiete, in denen wir nicht eingreifen. Das ist erklärtes Ziel der letzten Artenschutzkonferenz im Dezember 2022, und nach Meinung vieler Ökologen wird nicht mal das ausreichen, das Artensterben aufzuhalten.

Die Lage ist so dramatisch, dass nur noch radikale Maßnahmen eine Wende bringen können. In Deutschland sind nur etwa 6 % der Landfläche echte Naturschutzgebiete. Damit verfehlt unser Land seit Jahren die Zielvorgaben der EU, der UNO und Empfehlungen der Wissenschaft.

Man könnte argumentieren, wir leben in Europa seit Jahrhunderten in einer Kulturlandschaft und unser Beitrag bei einer so hohen Bevölkerungsdichte könnte sein, die Kulturlandschaft umweltverträglich zu gestalten. Aber ehrlich, geht das?  In einem Land mit 80 Mio. Menschen scheinen 1.000 Wölfe ein so großes Problem zu sein, dass wir bereits über Abschussquoten diskutieren. Und wenn bei der Umwandlung von Kulturwald in Urwald der Borkenkäfer dutzende Hektar Fichtenstangen befällt, kommen sofort die Forderungen nach Regulation. Weniger Gülle auf den Acker? Sofort Bauerndemo, Agroforstsysteme? Geht nicht wegen Subventionspraxis. Größere Abstände von Düngemitteleinsatz zu Gewässern, geht nicht wegen Ertragseinbußen. Tempolimit auch nur für drei Monate - sorry, nicht genug Schilder!

Ich bin seit 1989 in Umwelt und Naturschutz aktiv. Unsere größten Erfolge: FCKW-Verbot, Antarktisvertrag, Atomausstieg. Nichts davon ist davon zu 100 % umgesetzt. Die Meeresgebiete der Antarktis werden immer noch ausgebeutet, China hat in mehreren Fabriken heimlich FCKW produziert und verwendet, und die Antarktis taut auf. Das Umweltprotokoll des Antarktisvertrages läuft 2048 aus, spätestens dann kann auch die letzte Wildnis des Planeten ausgebeutet werden. Und die Zeit drängt. Komplexe Systeme können umkippen, und selbstverstärkende Prozesse werden zu unkontrollierbaren Abwärtsspiralen. Abtauen der Eisflächen führt zu verringerter Rückstrahlung, was den Planeten schneller aufheizt. Der Regenwald, der seinen Regen durch Verdunstung teilweise selber erzeugt, verträgt nur einen bestimmten Flächenverlust, ist der überschritten, bleibt der Regen aus und weitere Flächen sterben ab. Irgendwann kann sich der Regenwald nicht mehr regenerieren, selbst wenn wir versuchen, wieder aufzuforsten. In einigen Fällen ist es vielleicht schon zu spät, insgesamt bleiben uns weniger als 20 Jahre für eine Kehrtwende.

Schwarzmaler mag keiner und  ich weiß, dass solche drastischen Worte von vielen als übertrieben, alarmistisch oder radikal, mindestens aber als nicht hilfreich abgelehnt werden. Das sind nicht meine Ideen, sondern die Warnungen von WissenschaftlerInnen und Ergebnisse aktueller Forschung.

Es gibt aber auch eine andere Seite der Macht. Dieser riesiger Einfluss, den wir auf die Ökosysteme des Planeten haben, kann auch eine Chance sein. Wir können Artenvielfalt, Stoffkreisläufe und das Klimageschehen mittlerweile bewusst steuern. Wir können devastiertes Land regenerieren, aufforsten, auswildern und Gebäude errichten, die selber kleine Ökosysteme sind. Wir können die Landnutzung ändern global, denn als globalisierte Menschheit haben wir die Macht dazu. Und es gibt auch Erfolge vorzuweisen, die Mut machen sollten. Globale Naturschutzabkommen, Aufforstung in Afrika, Walfangverbote, Abgasnormen, Rückkehr von Kolkrabe und Seeadler und vieles mehr. Und zusätzlich bin ich überzeugt, der echte Wandel zur umweltverträglichen Menschheit wird nur gelingen, wenn alle Menschen das Gefühl haben, gerecht behandelt zu werden und am Wandel teilzuhaben. Wenn wie bisher lediglich kleine Stellschrauben verändert werden, aber große Konzerne nach wie vor davon profitieren, dass die breite Masse die Veränderung bezahlt, wird weiter Unwille vorherrschen, selber die nötigen teils schmerzhaften Veränderungen mitzutragen. Tiefgreifende gesellschaftliche und soziale Veränderungen, politischer Wandel, Mitbestimmung, Demokratisierung sind unabdingbare Bestandteile der Transformation in eine langfristig mit der Natur koexistierende Menschheit. 

Bei allem was wir tun, ob als Hausmeister, als Baumpfleger, als Landschaftsgärtner, muss uns das im Bewusstsein sein, und der Wandel zu einer echten, beständigen Koexistenz mit der Natur sollte der Kern unseres beruflichen Handelns werden. Wie oft habt Ihr, haben Sie sich gefragt: „Was mache ich hier eigentlich?“ Muss diese Fällung sein? Warum kann man hier nicht Dachbegrünung machen und wofür noch eine Straße, noch ein Haus und noch ein Supermarkt? Ich rufe alle im grünen Bereich auf, daran zu arbeiten, dass diese Momente immer seltener werden. So klein der Einfluss eines jeden von uns auch erscheint, können wir doch den Wandel vorantreiben. In Bürgerversammlungen, Stadträten, Ausschüssen, Demonstrationen und auch bei unseren Kunden. Konsequentes Eintreten für unsere natürlichen Lebensgrundlagen auch und grade in unserer Branche.

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