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Nachpflanzformel

Andreas Schulz: „Da rollt was auf uns zu“

Stadtbäume haben das nötige Potenzial, das Klima in der Stadt nachhaltig zu verbessern. Dafür muss aber auch der Erhalt des aktuellen Bestands gesichert werden, sagt Andreas Schulz, Fachagrarwirt für Baumpflege und stellvertretender Vorstand des Fachverbands geprüfter Baumpfleger.

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Andreas Schulz
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Der Experte hat eine „Nachpflanzungsformel“ entwickelt, mit der Kommunen die Dimensionen zahlenmäßig ermitteln können.

Nachpflanzungsformel © Schulz

Wie kamen Sie auf die Idee, eine Nachpflanzungsformel für Baumpflanzungen zu entwickeln?

In Aachen haben wir etwa 100.000 Bäume, davon 30.600 Straßenbäume im Stadtgebiet. Rein rechnerisch und bei einer durchschnittlichen, sehr optimistischen Lebenserwartung eines Straßenbaums von 70–80 Jahren bekommt man einen Wert von knapp 400 Abgängen pro Jahr, die perspektivisch jedes Jahr anfallen müssten. Der Baumbestand hat das Durchschnittsalter aber noch gar nicht erreicht, manche Neubaugebiete sind aus den 1990ern, die kommen erst noch in das Alter. Es werden in Zukunft Zeiten kommen, da werden die Abgänge bei über 1.000 Bäumen pro Jahr liegen. Wir führen aber zurzeit nur etwa 600 Fällungen pro Jahr durch, das bedeutet, wir schieben eine unfassbare Bugwelle vor uns her. Als mir das bewusst geworden ist, war ich entsetzt. Wenn wir nicht handeln und sich die Kommunen nicht vorbereiten, haben wir einProblem.

Wie funktioniert die Formel? Welche Schwierigkeiten gibt es dabei?

Die Formel ist zum Glück recht einfach: Man nimmt den aktuellen Baumbestand und teilt ihn durch die durchschnittliche Lebenserwartung eines Stadtbaums in Abhängigkeit der Baumart und Standortbedingungen. Das ergibt die zu erwartenden Abgänge pro Jahr. Diese Anzahl müsste also pro Jahrnachgepflanzt werden, damit der jetzige Bestand erhalten bleibt. Die Datenlage für das zu erwartende Lebensalter eines Stadtbaums ist schwierig, weil es systematische, digitale Baumkataster erst seit ungefähr 35 bis 40 Jahren gibt. Aber wenn wir Bäume fällen müssen, zählen wir Jahresringe von 60 bis 80, die meisten Bäume in Deutschland sind nach dem Zweiten Weltkrieg gepflanzt.

Sind das alle Bäume, die nach gepflanzt werden müssen?

Nein, dazu kommen noch Bäume, die durch Krankheiten, Vandalismus, mechanische Schäden oder Klimafaktoren ausfallen, wie zum Beispiel die Trockenheit der Sommer 2018 und 2019. Auch die leeren Stellen, die Rückstände, die inzwischen aufgelaufen sind – und die gibt es in allen Städten. In Aachen haben wir etwa 1.000 leere Standorte, dazu kommen weitere 1.000 potenzielle Standorte für zusätzliche Baumpflanzungen, die man sukzessive bepflanzen müsste. Real kann man heute von zirka 750 Abgängen pro Jahr ausgehen, das bedeutet etwa 1.000 Nachpflanzungen, nur um eine neutrale Baumbilanz zu erreichen und die Altlasten aufzuholen. Die zusätzlichen Kapazitäten werden eh erforderlich, da diedurchschnittlichen Abgänge auf mindestens 1.000 Bäume pro Jahr steigen werden. Die Tatsache, dass wir durchschnittlich bei 1.000 Abgängen liegen müssten, jedoch heute nur bei 750 liegen, bedeutet, dass esauch Jahre über dem Durchschnitt geben wird und wir dann 1.250 ober mehr Abgänge hinnehmen und kompensieren müssen. Hinzu kommen die Neupflanzungen, die als Kompensation für Baumaßnahmen anfallen.

Das hört sich nach einer immensen Aufgabe an. Welche Konsequenzen ergeben sich für die Kommunen in den kommenden Jahren?

Zurzeit wird viel über Neupflanzungen von Bäumen in den Städten im Rahmen von Klimaanpassungen gesprochen. Das eigentliche Problem ist aber die fehlende Nachpflanzung. Die Städte müssen anfangen,sich aufzustellen. Nur um 750 Bäume zu pflanzen inklusive drei Jahren Entwicklungspflege braucht ein Gartenamt 15 Mitarbeiter im Jahr. Da braucht es zusätzliche Logistik. Wir haben inzwischen eine Meisterstelle eingerichtet, die sich nur um die Koordination der Pflanzungen kümmert, aber das istnur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das werden am Ende wohl deutlich mehr. In der Vergabe rechnet man maximal mit 150–200 Ersatzpflanzungen und deutlich weniger Neupflanzungen pro Ingenieure inklusive Leistungsbeschreibung, Bauüberwachung und Abnahme.

Warum schreiben Sie die Arbeiten nicht aus?

Das ist sehr schwierig, weil jeder Baum, jeder Standort anders ist. Im Bestand haben Sie an eine Baumscheibe angrenzend vier unterschiedliche Beläge und vier unterschiedliche Höhen, jede hat einen anderen Vorschaden und muss oder kann zum Beispiel durch Entsiegelung optimiert werden. Zumeinen Mitarbeitern kann ich sagen: Mach das so und so, und dann macht der das. Ein Ausschreibungstext, der das umfänglich darstellt, treibt den Vergabeaufwand und die Angebotspreise hoch. Wenn die Texte zu pauschal sind, gehen die Kosten durch Nachträge in die Höhe. Außerdem gehenzurzeit die Preise allgemein durch die Decke. Die Auftragsbücher der Tiefbau- und Landschaftsbaufirmen sind randvoll. Ergänzend hinzukommem jetzt in Zukunft die steigenden Sprit- und Materialpreise.

Schaffen das die Baumschulen überhaupt?

Es gibt jetzt schon Engpässe bei den Klimafit-Bäumen. Kaum wird ein Baum gehypt, steigen auch die Preise. Versuchen Sie jetzt eine Ostrya (Hopfenbuche) oder eine Castanea sativa (Esskastanie) zu bekommen: Ein Jungbaum kostet die Baumschulen im Einkauf jetzt schon 60 €, früher waren das für2xv 32 € – das zieht sich dann wie ein roter Faden durch.

In geschlossenen Beständen im urbanen Bereich könnte man doch auch auf eine Kompensation durch Sukzession setzen?

In Saumbereichen, zum Beispiel am Friedhof oder an Sportplätzen, kann man auf Sukzession setzen, auch an Böschungen. Aber in Parkanlagen, in Baumscheiben, entlang Alleen oder auf Spielplätzen braucht es Einzelbaumpflanzungen. Da geht es um Gestaltung. In den geschlossenen Bereichen müssen wir uns auch um eine Vielfalt an Arten kümmern. Da gilt es zu überlegen, welche Wildlinge man beibehalten will. Bei Eschen weiß man zum Beispiel nicht, ob die Sämlinge resistent gegen das Eschentriebsterben sind oder nicht. Die nimmt man dann besser raus.

Wie sieht eine erfolgreiche Entwicklungspflege aus?

Es dauert mindestens drei Jahre, besser fünf Jahre, die Bäume auf Kurs zu bringen. Gerade in den ersten Jahren speichert das Baumsubstrat zwar gut Wasser, ist aber sehr durchlässig. Bis die Bäume Anschluss an die Wasserschichten des Umfeldes haben, muss man passend wässern. Auch beim Gießen kommt einiges zusammen. Wir rechnen mit 9 min pro Baum, da ist die Fahrt- und Rüstzeit mit dabei. Jeder neue Baum bekommt 150 l. In den Sommermonaten wird 15 bis 20-mal gegossen. Da kommen bei 1.500 Bäumen 30.000 Gießvorgänge zusammen. Dafür braucht man ungefähr acht Gießfahrzeuge samt Mitarbeitern. Wir versuchen gerade, ein System zu entwickeln, damit man an der Farbe des Dreibockssehen kann, in welchem Entwicklungsjahr sich der Baum befindet. So sieht der Fahrer direkt, wie er gießen muss. Im ersten Jahr muss man in den Gießring wässern, im 2. Jahr dann in und um den Gießring und im 3. Jahr die ganze Baumscheibe unterhalb der Kronentraufe. Auch könnte man so bei Trockenheit leicht die Bäume erkennen, die erst vor vier oder fünf Jahren gepflanzt wurden und entsprechend mitwässern.

Welche weiteren Faktoren sind bei der Baumpflanzung in der Stadt zu beachten?

Bei den Nachpflanzungen muss man gegebenenfalls auch von den in der FLL-Richtlinie für Straßenbaumpflanzungen angegebenen 12 m³ abrücken. Bäume stehen in starker Konkurrenz zu Leitungen und anderer Infrastruktur. Wenn Sie nur nachpflanzen, wenn dem Baum die 12 m³ zur Verfügung stehen, schaffen Sie gar keine Nachpflanzung. Viel ausschlaggebender ist die richtige Baumart für den Standort und ob der Baum später Anschluss am Boden hat. Auch die Kosten spielen da eine Rolle. Anders ist es beim Neubau oder umfassender Umgestaltung von Straßen und Plätzen: Hier sollte unbedingt auf ausreichend Baumsubstrat geachtet werden.

Welche Strategie empfehlen Sie den Kommunen und den Grünflächenämtern?

Es müssen so schnell wie möglich die passenden Infrastrukturen auf den Weg gebracht werden, das ist ganz wichtig! Neue Stellenausschreibungen durchlaufen in einer Kommune mehrere Verwaltungsschritte, die Zeit brauchen. Daher sollte man überlegen, was kann selbst gemacht werden, was muss man abgeben? Dann die notwendigen Ressourcen schaffen: Hier stellen im Moment sowohl das Personal als auch das Equipment eine besondere Herausforderung dar. Der Personalmarkt ist leer, die Lieferzeiten sind jenseits von Gut und Böse. Die Städte brauchen Konzepte, die der jetzt vorhersehbaren Entwicklung entgegentreten. Da hilft kein Schönrechnen der Baumbilanz oder Aussitzen, sondern nur, dem Umstand ins Auge zu sehen, den Bedarf zu berechnen, und offen und transparent an Entscheidungsträger und Öffentlichkeit heranzutreten. Um ein Problembewusstsein zu schaffen, kann man auch mal eine Proberechnung machen. Teilen Sie Ihren Baumbestand durch die jährlichen Ersatzpflanzungenund Sie erhalten als Ergebnis, wie alt Ihre Bäume durchschnittlich werden müssen. Also zum Beispiel 25.000 Bäume durch 100 Ersatzpflanzungen im Jahr macht 250 Lebensjahre. Und sich dann die Frage stellen:

Schaffen die Bäume das überhaupt? Und zwar nicht die Linde in der Parkanlage, sondern ein Crataegus oder Sorbus aus den frühen 1960er-Jahren in dem 1 × 1 m großen Pflanzquartier. Da sind viele bereits angezählt und eines Tages muss die ganze Straßenreihe raus. Im Austausch mit Kollegen und nach meinen Erfahrungen wird das Thema Ersatzpflanzungen viel zu wenig berücksichtigt. Wer seinen Baumbestand in Größe und Funktion erhalten möchte, muss heute die Weichen stellen.

Andreas Schulz © Andreas Schulz

Andreas Schulz, www.baumpflegeverband.de

Andreas Schulz ist stellvertretender Vorsitzender des Fachverbands geprüfter Baumpfleger und Bereichsleiter Baumunterhaltung bei den Aachener Stadtbetrieben. Bei der FLL sitzt er im nächsten Regelwerks-Ausschuss zur Erarbeitung der Richtlinien für Straßenbaumpflanzungen.

Dieser Artikel erschien im Fachmagazin FREIRAUMGESTALTER. Zum Artikel gelangen Sie hier.

Über die Autorin

Katja Richter ist seit 1998 Landschaftsarchitektin und verbindet die Leidenschaft zum Beruf mit der Liebe zum Schreiben. Nach einer Zusatzausbildung zur Fachjournalistin veröffentlicht sie Fachbeiträge über Grün im Freiraum.

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